Diskrete Mathematik: Eine Entdeckungsreise (Springer-Lehrbuch)

  • Jaroslav Nešetril
  • Springer

Was zeichnet das Buch aus?

Die Entdeckungsreise von Matoušek und Nešetřil will so gar nicht in die üblichen Kategorien von Mathematik-Büchern passen:

Warum ordnet sich die Entdeckungsreise hier nicht ein? Einerseits enthält es Definitionen, Sätze und Beweise und ein Blick in das Inhaltsverzeichnis erweckt den Eindruck eines üblichen Lehrbuches, andererseits findet man beim zufälligen Aufschlagen immer wieder Passagen im Plauderton. Dennoch ist es alles andere als eine Mischung der beiden genannten Kategorien. Um dies festzustellen, reicht es ein Kapitel zu lesen, von dem man glaubt, es schon gut zu kennen – selbst dort wird man Unbekanntes und Unerwartetes finden.

Es ist verblüffend, wie gut es den Autoren gelingt, die Denkweise eines Mathematikers transparent zu machen und ausgehend von einfachen Problemen dessen abstrakten Kern herauszuschälen und so zu den Begriffsbildungen kommen – Begriffe, die in anderen Büchern oft ohne Motivation vorgesetzt werden. Und die Sätze erscheinen dann nicht als willkürliche Aussagen, deren Beweise abgearbeitet werden müssen, sondern als tiefe Einsichten über die zuvor in der Abstrahierung als relevant erkannten Begriffe. Gerade wenn für wichtige Sätze alternative Beweise gegeben werden, führt dies zu einem besseren Verständnis ihres Inhaltes. Wer sich die Mühe macht, die Beweise gründlich zu studieren, wird erkennen mit welcher Sorgfalt hier unerhebliche Details ausgesondert wurden und Aussagen hoher inhaltlicher Dichte und gedanklicher Klarheit formuliert werden.

Komplettiert werden diese Einsichten durch eine Vielzahl von Querverbindungen zu anderen Begriffen, Sätzen und Methoden, die eigentlich aus entfernten Gebieten der Mathematik stammen. Allein schon beim Durchlesen der Aufgaben – und erst recht, wenn man sie in Angriff nimmt – wird man überrascht sein, welche Zusammenhänge im Gebäude der Mathematik bestehen. Und die Autoren verstehen es, diese Zusammenhänge nicht nur beliebig aufzulisten, sondern sinnvoll anzuordnen. Als Leser ist man auch beim mehrmaligen Lesen immer wieder dankbar für die neuen Aspekte, die man in den ersten Durchgängen übersehen hat.

Die Inhalte

Die Inhalte beschränken sich eigentlich auf Kombinatorik und Graphentheorie. Aber durch die dargebotene Fülle von Ideen und teils erstaunlichen Querverbindungen zu anderen Gebieten der Mathematik (wie Lineare Algebra, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Analysis, Geometrie) erhält man nebenbei Einblicke in diese und wird geradezu aufgefordert, die Entdeckungsreise dort fortzusetzen.

Aufgaben und deren Lösungen

Die Aufgaben machen einen beachtlichen Teil des Buches aus – und ist dies ist gut so. Denn nichts kann mehr die Begeisterung für Mathematik wecken als die Beschäftigung mit interessanten Problemen. Und so wie die Aufgaben ausgewählt sind, den Theorieteil erläutern und ergänzen und vor allem Querverbindungen zu anderen Gebieten herstellen, tragen sie maßgeblich dazu bei, die Arbeitstechniken und Vorgehensweisen eines Mathematikers kennenzulernen und einzuüben.

Mit den Lösungen der Aufgaben ist ein idealer Mittelweg zwischen "Musterlösung" und "keine Lösungen" gefunden:

  1. Die Lösungen befinden sich am Ende des Buches und nicht sofort im Anschluss an die Aufgaben, was dem Leser nochmal verdeutlicht, er solle zuerst selbst aktiv werden.
  2. Die Lösungen sind nicht für alle Aufgaben gegeben. Von Studenten wird zu oft die Frage nach Musterlösungen gestellt und sie bemerken dabei nicht, wie kurzsichtig ihr Verhalten ist. Das Nachlesen einer Musterlösung hat noch selten einen großen Erkenntnisgewinn gebracht.
  3. Für viele Aufgaben, die inhaltlich sehr nahe an den behandelten Themen sind, werden die zentralen Ideen und Ergebnisse geschildert – aber immer in einem Rahmen, der noch Eigeninitiative in der konkreten Ausführung zulässt und einfordert.

Die Ausformulierung sämtlicher Musterlösungen würde dem Buch einen Teil seines Zaubers nehmen und wäre nicht zu begrüßen.

Abbildungen

Besonders hervorzuheben ist die Qualität der Abbildungen: Sie sind zwar alle nur in Schwarz-Weiß (Graustufen werden nur eingesetzt, wenn es wirklich erforderlich ist), konzentrieren sich aber genau auf den relevanten Sachverhalt. In vielen anderen Büchern wird große Mühe aufgewendet, um ansprechende Abbildungen anzufertigen, die dann aber oft überladen und irreführend sind. Die "Entdeckungsreise" ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man durch Reduktion die Inhalte treffend und verständlich darstellen kann und gleichzeitig den Abstraktionsprozess bei den mathematischen Begriffsbildungen nachvollziehbar machen kann.

Für wen ist das Buch empfehlenswert?

Das Buch richtet sich zweifellos zuerst an Mathematik-Studenten und ist für diese Zielgruppe uneingeschränkt zu empfehlen.

Ebenso für Informatik-Studenten, da die behandelten Themen ein wichtiger Bestandteil der Mathematik für Informatiker ist und die in der "Entdeckungsreise" vermittelten Arbeitstechniken in der Informatik nur förderlich sein können.

Es kann aber auch allen Schülern und Abiturienten empfohlen werden, die ein Studium beginnen wollen, in dem sie Mathematik auf einem Niveau lernen werden, das deutlich über Schul-Niveau und Ingenieur-Mathematik hinausgeht, also etwa Mathematik, Physik und Informatik. Denn in der Schule wird ein eher verzerrter Eindruck davon vermittelt, was Mathematik ist, wie man in diesem Fach vorgeht und welche Fertigkeiten einen guten Mathematiker ausmachen. Nur zu oft

Stattdessen lernt und erlebt man hier:

Die "Entdeckungsreise" kann sehr helfen die Erschütterung abzumildern, die viele Studenten im ersten Semester erleben, wenn sie mit "echter" Mathematik konfrontiert werden.

Zitate

Die folgenden Zitate sollen ein wenig die Absichten der Autoren charakterisieren:

"Die fruchtbarste mathematische Forschung war nur selten durch praktische Ziele motiviert. Einige großartige Ideen haben erst kürzlich Anwendungen gefunden. Mathematik hat beachtliche Anwendungen, doch der Versuch die mathematische Forschung auf die direkt anwendbaren Teile zu beschneiden, hinterlässt einen leblosen Torso, dem der größte Teil der kreativen Kraft genommen ist." (Seite 7)

"Eines der Hauptziele dieses Buches ist, dem Leser die Schönheit und Eleganz mathematischen Beweisens vor Augen zu führen. Wir wünschen uns, dass auch Sie die Befriedigung erfahren, die ein gelungener Beweis erzeugen kann – sei er nun aus einem Buch oder sogar ein eigener.

Ein möglicher Einwand ist, dass die meisten Studenten im späteren Beruf wohl nie solche Beweise brauchen werden. Wir glauben, dass man sich durch das Beweisen mathematischer Sätze nützliche Denkgewohnheiten antrainiert, etwa den Gebrauch klarer und präziser Begriffe, exaktes Formulieren von Gedanken und Aussagen und dass man keine Möglichkeiten übersieht, die vielleicht nicht ganz offensichtlich sind. Solche Gewohnheiten sind z. B. dann von unschätzbarem Wert, wenn man Software schreiben soll, die nicht gleich abstürzt, wenn ein Fall eintritt, den man nicht eingeplant hat." (Seite 20)

Gesamtbewertung

Es gibt nur wenige Mathematik-Bücher, die sich auf ein spezielles Thema einschränken, aber dennoch die Weite der Mathematik erahnen lassen, die konkrete Probleme behandeln und gleichzeitig den Leser umfassend in der Methodik der Mathematik schulen. Dies kann nur so gut gelingen, weil die Autoren selbst die Überzeugung leben, wonach die Schönheit der Mathematik in ihren Beweisen sichtbar wird und mathematische Entdeckungen nur gemacht werden, wenn man die Mathematik ihrer Zwecke entbindet. Diese Einstellung ist auf jeder Seite des Buches spürbar und man kann erahnen, welche Entdeckungsreisen die Autoren selber gemacht haben und wie groß ihr Wunsch ist, der Leser möge ihren Enthusiasmus teilen und sich ebenfalls auf eine Entdeckungsreise begeben.

Wer ein Mathematik-Buch auf eine einsame Insel mitnehmen darf, wird sicher Die Entdeckungsreise in die engere Auswahl aufnehmen. Auch wer es nicht auf einer Insel liest, sollte Vladimir Nabokovs Motto beherzigen: "Ein guter Leser, ein bedeutender Leser, ein aktiver und kreativer Leser ist ein Wiederleser".